Roman
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006
332 Seiten
Werden Sie über Sabina Nikolajewnas
Ende schreiben? hat mich die zierliche
alte Dame in ihrem klaren gepflegten
Deutsch gefragt.
Ich weiß es nicht, habe ich geantwortet.
Noch weiß ich es nicht.

Die russische Patientin

Inhalt

„Ich liebe ihn und ich hasse ihn.“ Unüberbrückbar scheinen die Gegensätze zwischen C.G. Jung und seiner russischen Patientin Sabina Spielrein, die in ihrer Verzweiflung Hilfe bei Sigmund Freud sucht.
Ein Drama aus der Frühzeit der Psychoanalyse, längst vergessen, hätte nicht der zufällige Fund ihrer Tagebücher und Briefe Mitte der 70er Jahre Spielrein unerwartet zu einer Person öffentlichen Interesses gemacht.
Wer aber war sie?
Die Erzählerin begibt sich auf Spurensuche, folgt Sabina Spielrein nach Zürich und Wien, Berlin, Moskau und Rostow am Don, wo ihre Geschichte 1885 begann und 1942 endete.

Zürich, sagt der Vater und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dr. Monakow. Und ihr ist, als habe er ihr einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Wie`s der alte Doktor tat, zu dem man sie brachte, wenn sie nachts durch Haus und Garten geirrt war, laut schreiend und Grimassen schneidend, um die Gespenster zu verjagen, die sie heimsuchten, sobald sie sich zu Bett legte.
Die Schweiz, sagt der Vater, und sein Gesicht glänzt feucht und rot, die Adern an der Schläfe schwellen dick und blau, die Schweiz ist ein Land, das Juden alle Rechte gibt.
Starr sitzt sie da. Und der Vater beginnt, sich vor ihren Augen zu drehen. Sein Kopf mit Haar und Zarenbart. Die Lippen ziehen sich breit. Der Mund öffnet sich.
Zuerst Monakows Klinik, sagt der Mund, und dann dein Studium.

Und während die Erzählerin der „Frau zwischen Jung und Freud“ folgt, wird sie selbst Teil der Geschichte, findet Dokumente und historische Quellen, widersprüchliche Behauptungen und irreführende Informationen. Je tiefer sie eindringt, desto deutlicher nimmt Sabina Spielrein Gestalt an als Suchende zwischen Ost und West, jüdischen und russischen Heilserwartungen, zwischen Marxismus und Psychoanalyse, findet sie die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, einer Grenzgängerin, die den Traum von der europäischen Mission des Judentums träumte und sich die Veränderung der Gesellschaft durch Psychoanalyse und Sozialismus erhoffte.
Eine Hoffnung, die mit Stalins Terror, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust ein blutiges Ende fand.

Jetzt liegt die Stadt hinter uns. Grauer Dunst über der Steppe. Das Taxi hält. Hier, sagt der Komparatist, und wir steigen aus. Stehen am Abgrund. Ferner ist die Frau, deren Spuren ich suche, mir nie gewesen. Ich gehe alleine, sage ich.(…)
Ich bin am tiefsten Punkt, am Ende des Weges. Ein steinernes Rund, darin eingelassen ein metallener Ring für die ewige Flamme, erloschen. Seit Jahren schon. Kaum einer kommt, der Toten zu gedenken. Nur zwei dürftige Sträuße aus Plastik sind geblieben, ihre Farben von Sonne, Regen und Schnee stumpf verblichen wie die Schrift auf einem Grab. (…)
Ich bücke mich nach einem Stein. Kalt und rund liegt er in meiner Hand. Es dämmert. Weit oben, am Rand der Balka, wartet das Taxi.

Ein Roman von Aufbruch und Scheitern, Liebe, Verzicht – und der Suche nach Erlösung.

Pressestimmen

Bärbel Reetz nennt ihr Buch „Die russische Patientin“ einen Roman. Sie hätte es auch „Reisebericht“ nennen können, „Spurensuche“ oder „Dokumentation einer Recherche“, denn Reetz schreibt immer zweigleisig. Nachempfundene romanhaft gestaltete Szenen aus Spielreins Leben wechseln mit Schilderungen der Faktensuche: Von Zürich und Wien über Berlin, München, Moskau bis nach Rostow, ihrer Geburts- und Todesstadt, folgt sie Sabina Spielrein. (…) Und immer wieder – gleichberechtigt neben Spielrein – rückt Reetz selbst in den Vordergrund: Ihre Gedanken, Eindrücke, Erwartungen und Enttäuschungen sind es, die den Charakter des Buches bestimmen. (…) Am Ende dieses nachdenklichen Buches weiß man, dass man viel mehr wissen muss: über die Psychoanalyse, den Antisemitismus, Russland, Sabina Spielrein …
Barbara Garde – Deutshe Welle – 30.06.2006

Reetz’ Einfühlungsvermögen und ihre Visualisierungsgabe sind beeindruckend. (…) Die verschwommene Gestalt der fast Vergessenen wird sichtbar und artikuliert sich ergreifend und präzise zugleich.
Helena Malzew – Badische Zeitung – 12.08.2006

Ein fesselndes Porträt, ein rundherum lesenswertes Buch, das der tragischen Geschichte der Protagonistin in allen Facetten gerecht wird und mit Leidenschaft an diese herausragende Frau erinnert.
Elke Nicolini / Hamburger Abendblatt / 01./02.07.2006

Bärbel Reetz begegnet der Anmaßung des Biographen, die Freud fürchtete und verdammte, durch die mittlerweile verbreitete Methode, auch die Spurensuche selbst zu beschreiben und so ihre Skrupel und Schwierigkeiten der Darstellung eines fremden Lebens offenzulegen. Sie entgeht der damit oft einhergehenden Gefühligkeit nicht ganz, aber die Anschaulichkeit ihrer Sprache und die präzise Klugheit ihrer Recherche entschädigen dafür vollkommen. Ein imponierendes, trauriges Leben und ein beeindruckendes Buch.
Elke Schmitter – Der Spiegel – Nr. 13,/ 27.03.2006

Der faszinierende Roman zweier Frauen, von denen die eine – die Schriftstellerin – sich selbst findet, indem sie das Leben der anderen nachvollzieht (…) Er besitzt diese poetische – und zugleich moralische und religiöse – Kraft eines Kampfes gegen das Vergessen und des Widerstandes gegen die furchtbare, aber illusionäre Macht des Todes.
Claudio Magris – Il Piccolo – 20.04.2006
(aus dem Italienischen übersetzt von Heide Hollmer)

Ein faszinierendes, bewegendes, ein beeindruckendes Buch.
Ernst A. Grandits – 3sat Kulturzeit – 17.03.2006

Die russische Patientin – Longlist für den Deutschen Buchpreis 2006

Das erste Buch über Sabina Spielrein, dem ein breiteres Publikum zu wünschen ist.

Jüdische Zeitung / Nr. 3 / März 2006

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